Ich bin Lara, 22 Jahre alt und habe vor kurzem mein Studium begonnen. Dieses Jahr habe ich endlich mein Abitur machen können und habe vor ein paar Wochen angefangen Psychologie zu studieren.
Es gab bei mir nicht DAS eine Erlebnis, wonach es anfing den Bach runterzugehen. Immer, wenn mich Leute fragen, wann alles anfing und wie mein Leben vor der Krankheit war, finde ich keine Antwort drauf – denn ich kenne es nicht anders als es jetzt ist.
Mein Leben war schon immer von Gewalt geprägt
Ich bin in einem Land in Osteuropa geboren worden und habe die ersten 7 Jahre meines Lebens dort gelebt. Dort habe ich durch einen Freund der Familie, der häufig zu Besuch war und auch regelmäßig auf mich aufgepasst hat, sexuellen Missbrauch erlebt. Meine Eltern waren sehr jung, mussten viel arbeiten und waren schlicht weg überfordert. Ihre Ehe ging zu Bruch und ihre Überforderung wurde gerne mal an mir durch Schläge oder emotionale Gewalt ausgelassen. Daher fiel wohl auch nicht auf, was mir wöchentlich und teilweise mehrfach wöchentlich passierte.
Nach der Scheidung von meinem Vater lernte meine Mutter einen neuen Mann in Deutschland kennen. So zogen wir als ich 7 Jahre alt war nach Deutschland. Dadurch endete die sexuelle Gewalt. Trotzdem wurde nicht alles besser. Ich musste mich plötzlich in einem fremden Land zurecht finden, dessen Sprache ich nicht sprach. Der neue Freund meiner Mutter machte mir in jeglichen erdenklichen Situation klar, dass ich hier nicht erwünscht und höchstens nur geduldet war. Alles, was ich tat, schien falsch zu sein und wurde durch Anschreien, Schlagen oder im Zimmer einsperren bestraft.
Nach 3 Jahren zogen meine Mutter und ich in eine eigene Wohnung ohne ihren Freund. Die Beziehung zu meiner Mutter war nach wie vor schwierig und toxisch. Sie war extrem leistungsorientiert, wenn ich mit einer 3 von der Schule nach Hause kam, erwarteten mich Schläge, Strafarbeiten und ständige Beileidigungen wie dumm und unfähig ich doch sei.
Ich war völlig verzweifelt
Im Nachhinein weiß ich, dass ich mich schon als Kind immer wieder in die Dissoziation geflüchtet habe um der Realität zu entkommen. Mit 11 Jahren kamen tägliche Selbstverletzungen und schwere Suizidgedanken dazu. Ich war schwer depressiv, verzweifelt und wollte so nicht mehr leben. Als in der Schule auffiel, dass ich Wunden und Narben an den Armen hatte, kam ich das erste Mal in therapeutische Behandlung. Dort hieß es nach ein paar Monaten, dass eine stationäre Behandlung notwendig wäre.
Da meine Mutter nicht wollte, dass ihre Tochter in eine „Irrenanstalt“, wie sie es bezeichnete, kommt, kam ich erstmal in eine Tagesklinik. Diese war allerdings alles andere als hilfreich. Man war schlicht und ergreifend überfordert mit mir, denn ich konnte damals nicht benennen warum es mir so schlecht ging. Ich hatte an die Zeit, bevor wir nach Deutschland gezogen sind, keinerlei Erinnerungen. Es war wie ausgelöscht. Da ich keinen Grund benennen konnte, hieß es immer wieder ich solle mich nicht so anstellen, es gäbe keinen Grund warum es mir so schlecht ginge. Ich wurde ohne Besserung wieder entlassen und einige Wochen später begann ich meinen ersten Suizidversuch, bei welchem ich fast gestorben bin.
Der stationäre Aufenthalt rettete mir das Leben
Nach 5 Tagen Intensivstation wurde ich in die Kinder- und Jugendpsychiatrie gebracht und war dort ein Jahr lang stationär. Ich wurde das erste Mal in meinem Leben mit Respekt behandelt und es wurde sich für mich interessiert. Ich fühlte mich das erste Mal sicher. Einige Wochen nach meiner Aufnahme fingen an Erinnerungen an meine Kindheit in Form von schweren Flashbacks zurückzukommen. Es hat lange gedauert zu akzeptieren, dass das, was ich da sah, wirklich passiert ist und ich nicht halluziniere. Kurze Zeit nach dem die Flashbacks anfingen aufzutreten, entwickelte ich Krampfanfälle. Zunächst vermutete man, dass diese eine Folgeerscheinung meines Suizidversuchs waren, doch es kristallisierte sich schnell raus, dass es dissoziative (nicht-epileptische) Krampfanfälle waren.
Ich war mit all dem, was nun aus mir herausbrach, komplett überfordert. Diagnose: Kompetenz Posttraumatische Belastungsstörung mit dissoziativen Krampfanfällen. Ich verletzte mich täglich selbst, ich versuchte mir immer und immer wieder das Leben zu nehmen, doch die Mitarbeiter der Station fingen mich immer wieder auf. Sie gaben mich nicht auf. In den nächsten Jahren landete ich immer und immer wieder in dieser Klinik.
Ich hielt es zuhause meist nie länger als einige Wochen aus. Mein Therapeut in der Klinik hatte schon bei meinem ersten Aufenthalt dringend empfohlen, dass ich in eine therapeutische Wohngruppe ziehe. Meine Mutter verbot es mir. Es dauerte lange bis ich die innere Stärke entwickelt habe mich gegen meine Mutter aufzunehmen, doch ich habe es geschafft.
Die folgende Zeit war ein schwerer Kampf
Mit 17 Jahren zog ich schließlich nach einer langen Klinikodyssee in eine therapeutische Wohngruppe. Leider lief dort auch nicht alles rosig. Sie waren mit meiner komplexen Traumafolgestörung komplett überfordert. Gerade mit den mehrfach täglich auftretenden Krampfanfällen konnten sie nicht umgehen. Man versuchte mich loszuwerden und wieder war es meine alte Klinik, welche mir half dort zu bleiben. Die 3 Jahre, welche ich in der Wohngruppe lebte, waren sehr durchwachsen. Ich habe teilweise sehr sehr gute Erfahrungen machen dürfen, dass ich akzeptiert wurde so wie ich bin, dass ich Spaß mit meinen Mitbewohnern hatte, endlich irgendwo dazu gehörte.
Doch es lief auch sehr vieles schief. Ich erlebte immer wieder Drohungen in der Wohngruppe, dass man mich auf die Straße setzen würde. Man machte mir immer wieder klar, dass ich durch meine Krampfanfälle eine massive Belastung für alle Mitarbeiter und Bewohner wäre. Man verbot mir nach 22 Uhr Krampfanfälle zu haben, denn dann hätten die Mitarbeiter nur noch Bereitschaftsdienst und dann solle ich bitte keine Arbeit machen. Wenn ich aufgrund eines Krampfanfalls eine Mahlzeit verpasst hatte, durfte ich nicht sobald es mir wieder besser ging essen, sondern musste bis zur nächsten Mahlzeit oder bis zum nächsten Tag warten. Viele konnten nicht damit umgehen, dass die Krampfanfälle psychischer Ursache waren und kein körperlicher.
Ich bin immer noch nicht am Ziel, aber ich gebe nicht auf
Nach 3 Jahren zog ich in eine andere Wohngruppe, wo es mir deutlich besser ging. Ich schaffte dort mein selbstverletzendes Verhalten deutlich zu reduzieren. Doch die Krampfanfälle bestimmten leider nach wie vor meinen Alltag und keinerlei Therapie und Medikation schien dabei zu helfen. Daher entschied ich mich dafür mir einen Assistenzhund ausbilden zu lassen. Nach langem Spendensammeln und Suchen, zog letztes Jahr im November mein Assistenzhund bei mir ein. Mittlerweile lebe ich mit ihm zusammen in einer eigenen Wohnung.
Ich bin nach wie vor nicht geheilt. Ich leide immer noch täglich unter den Symptomen der komplexen PTBS. Ich bin bis heute nicht wirklich belastungsfähig, bin schnell erschöpft und reizüberflutet, brauche viele Pausen. Ich kämpfe bis heute mit den Folgen der Traumata und mein Weg ist noch lang. Aber ich habe es geschafft von meiner Mutter auszuziehen, was wahrscheinlich der wesentliche Schritt war, dass ich heute noch lebe. Ich habe in der Klinik gelernt, dass es auch Menschen gibt, die mir nicht wehtun und schaden wollen, die mich mit Respekt behandeln und bei denen ich sicher bin. Ich habe in der Wohngruppe gelernt für mich und meine Rechte einzustehen, ich habe gelernt, dass ich es trotz der Krampfanfälle schaffe, Sachen auch alleine zu machen.
Ich habe es geschafft mein selbstverletzendes Verhalten deutlich zu reduzieren und habe es geschafft so stabil zu werden, dass ich heute (mit Assistenzhund) in einer eigenen Wohnung leben kann. Und schließlich habe ich dieses Jahr mein Abitur nachgeholt und habe nun angefangen zu studieren. Ich möchte euch sagen, dass ihr nicht alleine seid – auch, wenn es sich anders anfühlt. Viele sagen ja: „Es wird alles wieder gut.“ Dieses Versprechen kann ich Euch so noch nicht geben, was ich aber versprechen kann ist, dass es besser wird. Es wird besser – ihr werdet es schaffen eine innere Stärke zu entwickeln, für euch einzustehen und einige schöne Seiten am Leben entdecken, für die es sich lohnt am Leben zu bleiben.
Wenn du gerade selbst mit Angst, Depressionen oder anderen psychischen Herausforderungen kämpfst, haben wir hier einen Brief an dich geschrieben. DU kannst auch andere ermutigen, erzähle Deine Geschichte! Wir freuen uns auch riesig über deine Nachricht oder deinen Kommentar! Wenn dir der Blog gefallen hat, kannst du ihn natürlich gerne liken, teilen und uns auf Facebook und Instagram folgen @theoceaninyourmind.