Achtung: Falls du selbst mit Selbstverletzung zu kämpfen hast könnte dieser Text triggernd auf dich wirken, bitte pass auf!
Ich kämpfe mit Selbstverletzung. Obwohl ich mich seit fast 2 Jahren nicht mehr geschnitten habe. Oft erlebe ich, dass Menschen mit Unverständnis und Bestürzung reagieren, wenn sie meine Narben oder früher meine Schnitte gesehen haben, was ich natürlich verstehen und nachvollziehen kann. Deswegen möchte ich einmal versuchen zu erklären, warum ich damals angefangen habe mich selbst zu verletzen und wie es sich weiterentwickelt hat.
Selbstverletzung als stummer Hilferuf
Wenn man sich selbst verletzt, hört man oft Vorurteile wie „Die will doch nur Aufmerksamkeit!“ Auf eine gewisse Art und Weise mag das gar kein Vorurteil sein und wird nur falsch interpretiert. Mit 13 Jahren habe ich angefangen mich zu schneiden, weil ich nicht anders ausdrücken konnte, dass etwas mit mir und in mir drin nicht stimmte. Ich konnte nicht greifen und nicht in Worte fassen, was es war und mich oberflächlich zu schneiden war eine Möglichkeit mich auszudrücken, es war quasi ein stummer Hilferuf. In einem früheren Tagebucheintrag habe ich das einmal so beschrieben:
„Kennst du das Gefühl, der ganzen Welt zeigen und erklären zu wollen, wie es dir geht? Die Leute anschreien zu wollen, sie sollen doch mal genauer hinsehen! Oder endlich mal ehrlich sein und das Innerste in Worte fassen zu wollen – den ganzen Hass, die ganzen Gedanken und Gefühle laut und deutlich rausschreien zu wollen? Damit die Menschen einen verstehen. Damit die Menschen erkennen, wer man wirklich ist. Zu zeigen, dass man sonst nur eine Maske trägt. Aber dann im Endeffekt nur dasitzen, lächeln, freundlich sein zu können und innerlich fast an sich selbst kaputtzugehen..? Weil man einfach keine Worte für seine Gefühle hat. Und den Mut darüber zu reden sowieso nicht.“
Es gibt unterschiedliche Auslöser
Bei mir gab und gibt es unterschiedliche Situationen und Auslöser für Selbstverletzung. Manchmal hatte ich das Gefühl mich selbst bestrafen zu müssen, weil ich mich so sehr gehasst habe, dass ich es nicht anders verdient hätte und mir deshalb Schmerzen zufügen musste. Ich kämpfe immer wieder mit extremer innerer Anspannung, die ich nur schwer wieder losbekomme. Am effektivsten war hierbei immer die Selbstverletzung, weil beim Schneiden dieser Druck abgebaut wurde und sich eine gewisse Erleichterung breitmachte.
Das Problem beim Ritzen ist, dass es funktioniert, was es so verdammt schwer macht, damit wieder aufzuhören. Es funktioniert in dem Sinne, dass es Anspannung abbaut und eine beruhigende Wirkung hat, außerdem setzt es Glückshormone (Endorphine) frei. Manchmal habe ich mich geschnitten, wenn ich eine depressive Phase hatte, wenn ich aus diesem Meer von Traurigkeit und negativen Gedanken nicht mehr allein herausgekommen bin, wenn ich die Leere in mir nicht mehr ertragen habe, wenn ich einfach wieder mal etwas fühlen wollte, etwas anderes als diese Gedanken und Gefühle, die mir so weh tun.
Manchmal war körperlicher Schmerz das Einzige, was mich überhaupt etwas hat fühlen lassen. Und manchmal war körperlicher Schmerz einfach leichter zu ertragen als mein innerlicher Schmerz, ausgelöst durch unendlich viele Emotionen und Gedanken. Durch den äußeren Schmerz können Emotionen, die man nicht spüren möchte, betäubt werden. In einem weiteren Tagebucheintrag, habe ich meinen Zustand kurz vor dem Schneiden einmal so beschrieben:
„When you try your best but you don’t succeed. Ich habe das Gefühl zu ertrinken. Zu ertrinken in einem Meer aus Angst, Hass, Verzweiflung & Traurigkeit. Wie die schwarze See in einer stürmischen Nacht reißen mich meine Gefühle in die Tiefe. Wie ein Strudel ziehen sie mich auf den Abgrund zu, bis ich nicht mehr weiß wo oben und unten ist, bis ich nicht mehr weiß wo links und rechts ist, bis ich nicht mehr atmen kann. Der einzige Ausweg aus diesem Abgrund scheint mir der, mir selbst Wunden zuzufügen. Mich zu spüren. Mich selbst noch tiefer ins Meer zu ziehen. Und dadurch fliegen zu lernen.“
Der Schmerz als Ventil
Wenn ich innerlich so sehr auf mich selbst fixiert war, in mir gefangen war, meine Umgebung überhaupt nicht mehr wahrgenommen habe, weil ich nur mich und meine Schmerzen, meine Gedanken und Emotionen gesehen habe und das Gefühl hatte fast durchzudrehen und in diesem Ozean zu ertrinken, dann hat der körperliche Impuls des Schmerzes mir geholfen, wieder an die Wasseroberfläche zu kommen und durchzuatmen. Er hat mir geholfen aus mir selbst auszubrechen, meine Monster wegzusperren und wieder in der Realität anzukommen. Mit der Zeit hatte sich das Schneiden zu etwas Vertrautem entwickelt, etwas, was immer da war und mir immer geholfen hat. Etwas, was mich nicht im Stich ließ. Etwas, was zu einem guten Freund geworden war.
Manchmal ging es mir auch um Kontrolle. Es gibt Momente in meinem Leben, da wünsche ich mir nichts mehr als die Kontrolle über meine Gedanken und Gefühle zu haben. Das ist leider unmöglich, weswegen ich angefangen habe, mir andere Dinge zu suchen, die ich kontrollieren kann. Mich selbst zu verletzen, gehörte dazu, nach dem Motto: Ich verletze mich lieber selbst als dass andere es tun – denn den Schmerz kann ich kontrollieren.
Ritzen wird schnell zur Sucht
Das Problem am Ritzen ist, dass anfangs leichte Kratzer ausreichen um genügend Endorphine freizusetzen, damit es einem besser geht. Mit der Zeit braucht es dann aber immer häufigere, immer mehr und immer tiefere Schnitte, damit die „erwünschte Wirkung“ einsetzt. Dadurch entwickelt es sich sehr schnell zu einer Art Sucht. Selbst nach zwei Jahren ohne Selbstverletzung habe ich immer noch Schneidedruck und mich zu verletzen ist nach wie vor immer wieder eine Option. Die Option wird immer kleiner und schwächer, aber es wird noch eine Weile dauern, bis es überhaupt keine Option mehr sein wird.
Geholfen hat mir immer wieder der Gedanke, dass das Schneiden zwar kurzfristig scheinbar alles besser macht, aber langfristig mehr Probleme schafft als dass es diese lösen würde. Einmal angefangen, ist es schwer wieder aus dieser Suchtspirale herauszukommen. Deswegen rate ich jedem: fangt gar nicht erst damit an! Es gibt andere, gesündere Wege mit deinen Emotionen umzugehen! (dazu folgt nächsten Monat ein Blogeintrag)
Wie kannst du jemandem helfen, der sich selbst verletzt?
Falls du jemanden kennst, der sich selbst verletzt und du dich fragst, wie du ihr oder ihm helfen kannst, möchte ich versuchen, dir hier ein paar Tipps zu geben.
Selbstverletzung kann viele Formen haben: die üblichste ist das sogenannte Ritzen, also sich schneiden. Sich verbrennen, die Haare ausreißen, kratzen, schlagen etc. sind weitere körperliche Formen, ebenso wie auf Nahrung, Trinken und ausreichend Schlaf zu verzichten. Selbstverletzung muss aber nicht auf das Körperliche beschränkt sein, sondern kann auch auf emotionaler Ebene stattfinden, indem man sich zum Beispiel nichts Gutes mehr tut, Menschen verletzt und von sich stößt, die einem wichtig sind, um sich dadurch selbst zu verletzen.
Habe keine Angst
Wenn du herausgefunden hast, dass eine Freundin oder ein Freund sich selbst verletzt, behandle sie/ihn weiterhin normal. Sprich sie/ihn in einer ruhigen Situation darauf an und ignoriere es nicht. Das Wichtigste was du tun kannst, ist meiner Meinung nach, einfach für die Person da zu sein. Sage und zeige ihr, dass du da bist, dass du helfen möchtest, dass du ihr gerne zuhörst, wenn sie jemanden zum Reden braucht. Oft hat man Angst davor, dass man dann nicht weiß was man antworten kann. Meine Erfahrung ist: hab keine Angst davor nicht die richtigen Worte zu finden. Woher sollst du denn auch wissen, was man sagt und was nicht und was die andere Person hören will. Manchmal gibt es auch einfach keine richtigen Worte.
Manchmal braucht man seine Ruhe: bedränge die Person nicht und lass ihr ihren Freiraum. Behandle das Thema vertrauensvoll und akzeptiere es, wenn sie nicht sprechen möchte. Es kann auch total gut sein, einfach mal zu vergessen, wie es einem geht. Mal nicht über alles reden und nachdenken zu müssen, sondern etwas zu unternehmen und dabei frei sein zu können. Lenke deine Freundin/deinen Freund ab, unternehmt gemeinsam etwas, damit sie/er auf andere Gedanken kommen kann.
Grundsätzlich gilt aber: Begegne den Personen mit Liebe und mit Offenheit und erzähle ihr von den Möglichkeiten, sich professionelle Hilfe zu suchen.
Mir hat immer besonders geholfen, wenn andere Menschen mir gegenüber ganz offen mit meinen Problemen umgegangen sind und das einfach angesprochen haben. Wenn ich gefragt wurde, wie es mir geht und ich das Gefühl hatte ehrlich antworten zu dürfen, weil die andere Person Interesse an mir hat. Ich finde es nie schlimm, wenn Menschen auch ihre eigene Unsicherheit im Bezug auf mich und meine Erkrankungen ansprechen. Wenn sie mir ehrlich sagen, dass sie nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Dann kann ich darauf eingehen und versuchen Klarheit zu schaffen. Menschen, die mich verstehen oder zumindest versuchen mich zu verstehen, versuchen sich in mich hineinzuversetzen, haben mir immer gut getan. Auch wenn Menschen es aushalten, wenn es mir mal nicht so gut geht und dann nicht sofort das Weite suchen, weil sie überfordert damit sind. Überfordert sein ist völlig normal. Aber gemeinsam steht man das besser durch als allein.
Pass auf dich auf
Wichtig ist aber auch: vergiss dich selbst in alldem nicht. Du musst auch auf dich selbst Rücksicht nehmen. Sich um jemanden zu sorgen und zu kümmern, der mit einer psychischen Erkrankung zu kämpfen hat, kann sehr anstrengend sein. Such dir selbst Freiräume, lass dich nicht zu sehr vereinnahmen und wenn es dich zu sehr belastet, dann nimm Abstand und rede selbst mit jemandem darüber wie es dir in der Situation geht. Du hast keine Verantwortung für die Person, du kannst sie nicht verändern, du kannst sie nicht retten. Aber du kannst sie lieben. Und auch wenn sich das oft anfühlt, als würde man nichts tun und nichts erreichen… glaub mir, das tut es!
Wenn du gerade selbst mit Angst, Depressionen oder anderen psychischen Herausforderungen kämpfst, haben wir hier für dich die ersten Hilfemöglichkeiten aufgeschrieben und auch einen Brief an dich geschrieben. DU kannst auch andere ermutigen, erzähle Deine Geschichte! Wir freuen uns auch riesig über deine Nachricht oder deinen Kommentar! Wenn dir der Blog gefallen hat, kannst du ihn natürlich gerne liken, teilen und uns auf Facebook und Instagram folgen @theoceaninyourmind.