Ich bin 20 Jahre alt, Studentin und bin mit einer narzisstischen Mutter aufgewachsen. Einerseits war sie sehr streng und ich durfte viele Dinge nicht erleben – während meine Mitmenschen alle auf ihre ersten Partys durften, saß ich zuhause, weil ich aus irgendeinem Grund wieder nicht hin durfte (ein Grund, der immer etwas damit zu tun hatte, dass ich irgendwie als Tochter mal wieder nicht gut genug war). Andererseits musste ich mit extremer psychischer Belastung rechnen, wenn ich irgendetwas gemacht habe, das meiner Mutter nicht gepasst hat. Das konnte alles sein: eine Note unter einer 2 schreiben, irgendetwas anziehen was ihr nicht gefallen hat, einen schroffen Satz sagen weil ich einen schlechten Tag hatte, meine Schüssel mal aus Versehen nicht in die Spülmaschine räumen.
Egal was ich tat: ein falscher Schritt, und schon ging es los. Sätze wie: „Du bist ein schlechter Mensch“, „Du bist komplett rücksichtslos und dir sind andere Menschen immer egal“, „Du bist dumm“, „Du führst dich auf als wärst du der Nabel der Welt“, „Du enttäuschst mich jeden Tag“, „Du bringst Scham über diese Familie“ – und noch viele mehr dieser Art. Dazu entzog sie mir oft komplett die Liebe: sie redete einmal tagelang kein Wort mit mir, nachdem ich am Esstisch geweint habe, weil ich mich mit meiner besten Freundin gestritten habe. Sie schmiss meine Wäsche in den Garten und ich habe meine Unterwäsche aus dem Busch gefischt; sie hat mich komplett ignoriert, während sie mit meinen anderen Familienmitgliedern redete, als wäre nichts los. Für meine eigene Mutter war ich jedes Mal aufs Neue gestorben, wenn ich irgendeinen Fehler gemacht habe.
Ich hatte das Gefühl, ich bin am allen Üblen schuld, was mir passierte
Dazu kam komplette Vernachlässigung meiner eigenen Gesundheit, mental und physisch. War ich krank, „führte ich mich auf“. Als ich mir mit 13 die Fußsehne angerissen hatte, weigerte sie sich, mich zum Arzt zu bringen – „das wird schon heilen, du führst dich bloß auf“. Und als sie mich dann doch nach einer Woche Schmerzen hinbrachte, habe ich geweint, weil ich dadurch einen Reiturlaub sausen lassen musste – am Telefon sagte sie zu ihren Freunden mit verächtlichem Ton: „Die heult schon wieder den ganzen Tag rum, als würde das irgendwas ändern… man kann’s auch übertreiben“. Als ich eine Essstörung hatte und nur Diätshakes trank, ging sie durch meinen Schrank und fand die Verpackungen. Anstatt mich darauf anzusprechen und mir zu helfen, führte sie mich vor meinem Vater vor, sagte, ich bin eine dreckige Lügnerin der man nicht vertrauen kann (weil ich sie heimlich getrunken hatte), sagte, ich sollte mich für mich selbst schämen, dass ich meiner Mutter sowas nicht erzähle. Ich kämpfe immernoch mit meinem essgestörten Verhalten.
Ich habe jetzt eine komplexe PTBS. Diese Diagnose ist erst vor kurzem in den offiziellen Katalog aufgenommen worden – in Laiensprache bedeutet sie, dass das Hirn quasi komplett falsch „verkabelt“ ist. Dein Körper und dein Gehirn sind durch die unzählige Reihung an traumatisierenden Ereignissen in Überlebensmechanismen gefangen, die dir einmal nützlich waren. Doch sobald du dich aus dieser traumatischen Situation entfernst (bei mir war das der Auszug von zuhause), ist es dir unmöglich, mit ihnen unbehandelt ein unbeschwertes Leben zu führen. Ich beispielsweise hatte große Probleme mit: einem komplett fehlenden Selbstwertgefühl, einem extremen selbst auferlegten Leistungsdruck, „Self-Gaslighting“ (d.h. die Praxis, die eigenen Emotionen und Gedanken nicht ernst zu nehmen und diesen verächtlich/abweisend zu begegnen), Phasen der Depression abgewechselt mit Phasen von extremem Stress und Panik. Generell hatte ich das Gefühl, ich war nicht lebensfähig, dass ich alles falsch machte, was ich anfasste.
In Familien mit einem Narzissten gibt es oft feste Rollenverteilungen, die allesamt das Weltbild des Narzissten bestätigen. Ich war das schwarze Schaf. Egal was – ich war schuld. Ich musste bestraft werden. Ich bin meiner Mutter optisch sehr ähnlich. Ich glaube, für sie habe ich alles verkörpert, was sie an sich selbst so sehr gehasst hat – beziehungsweise wofür sie in ihrer eigenen Kindheit selbst hart bestraft wurde. Mein Bruder war das Sonnenkind: er konnte nichts falsch machen. Mein Vater ist der „Enabler“ (also derjenige, der das Verhalten rechtfertigt und nichts dagegen unternimmt). Sein Herz hat oft für mich geblutet und er hat gesehen, wie sehr ich unter dem Verhalten meiner Mutter gelitten habe. Aber durch jeden Moment, in dem sie dann Liebe gezeigt hat, hat für ihn wieder alles geradegebogen. Meine Eltern wissen bis heute nicht, wie sehr ich gelitten habe. Meine Essstörung, dissoziative Störung, Suizidgedanken, selbstverletzendes Verhalten und diese allgegenwärtige Depression, bei allem wurde weggesehen.
Dann begann ich mich frei zu kämpfen
Ich habe früh ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass das Verhalten meiner Mutter nicht richtig war. Diese Entwicklung kam schleichend – doch etwa mit 16 habe ich gesehen, dass ich nicht mehr so leiden muss, wie ich es die letzten vier Jahre besonders hatte. Ich hatte mit vielen mentalen Problemen zu kämpfen: die oben beschriebene Situation, dazu extremes Mobbing und eine Essstörung. Mit 16 habe ich langsam realisiert: nur weil die Menschen um mich herum mir wehtun, bedeutet das nicht, dass ich keinen intrinsischen Wert habe. Zu dieser Einsicht zu gelangen, ging nur durch Ressourcen ähnlich wie The Ocean In Your Mind, die Menschen wie mir Mut machen! Body Positivity-Accounts auf Instagram zeigten mir, dass die Liebe zum eigenen Körper schöner ist, als Hass es je sein könnte. Ressourcen auf Tumblr von Menschen, die ähnliches durchgemacht haben wie ich, veröffentlichten Memes über unser gemeinsam erlebtes Trauma und machten Mut, dass es besser wird. Langsam, sehr langsam, aber sicher, begann ich, das Licht am Ende des Tunnels zu sehen. Eine Welt, in der es mir besser geht, in der ich wertgeschätzt werde, in der ich alles sein konnte, was ich wollte.
Ich begann damit, Gedichte über mein Erlebtes zu schreiben. Sie waren mein erstes Ventil, um alles irgendwie zu verarbeiten. Ich begann, langsam aber sicher, meine Mutter weniger als das Zentrum meines Lebens zu sehen (was ihr natürlich ebenfalls missfiel und was extreme Reaktionen in ihr auslöste, die heute traumatisierende Erlebnisse für mich sind). Doch vor allen Dingen begann ich mit tiefer Introspektion und der Analyse meines Familienumfelds. Ich begann zu verstehen, wie meine Mutter so werden konnte und wieso ich auf diese Situationen so oder so reagierte. Ich begann, meine eigenen Gefühle zu verstehen und sehr rational zu betrachten. Es war keine Heilung, es ist auch nicht mit Therapie zu vergleichen – aber es half mir immens, mich nicht mehr von meinen Gefühlen übermannen zu lassen.
Durch Covid ging alles von vorne los
Mit 18 zog ich von zuhause aus: ich hatte zu dem Zeitpunkt eine seit über einem Jahr laufende glückliche Beziehung. Ich hatte es geschafft, eine halbwegs stabile Selbstwertbasis zu entwickeln und war glücklich darüber, mein Studium in einer neuen Stadt anzufangen. Doch dann kam Corona. Ich war gefangen in meinem Zimmer, hatte mit meinem Freund Schluss gemacht, konnte meine Kommilitonen nicht kennenlernen. In dem langen Lockdown von ca. 6 Monaten wurden alle Verhaltensweisen, die einer Depression Tür und Tor öffnen, plötzlich aufgezwungen. (Ich möchte kurz einwerfen, dass ich den Lockdown für gerechtfertigt und notwendig hielt – doch dies war mein Erlebnis des Ganzen.) Verkleinere deinen Lebensraum, reduziere deine sozialen Kontakte. Meine ganze Hoffnung in die Zukunft war, endlich ein freies Leben führen zu können. Freiheit. Und nun verbrachte ich diese Freiheit in meinem Bett, welches zunehmend zu einem Gefängnis wurde… bewacht durch einerseits die Inzidenzzahl, andererseits meine eigene Depression, die in altbekannter Form wieder ihren Weg in mein Leben fand.
Fast Forward zum nächsten Sommer: endlich öffnet alles wieder, Corona gibt es anscheinend nicht mehr. Doch meine Angststörung macht es mir unmöglich, Menschen kennenzulernen. Zu sehr bin ich in meinem Corona-Depressions-Trott gefangen. Obwohl einzelne Kurse endlich Präsenzangebote geben, nehme ich sie nicht wahr, obwohl ich ein Jahr lang mich genau über das Fehlen dieser beschwert hatte. Ich konnte nicht, es ging nicht. Von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends saß ich am Laptop: für die Uni, das Praktikum, die Initiative. Der Leistungsdruck schon wieder. Das fehlende Selbstwertgefühl schon wieder. Die Panikattacken schon wieder. Alles, alles, alles schon wieder.
Die Therapie veränderte mein Leben
Also ging ich mit 19 in Therapie. Ab dem Erstgespräch und bis zu der regelmäßigen Therapie dauerte es drei lange, harte Monate. Doch ab September hatte ich jede Woche einen Raum, mein Erlebtes zu verarbeiten. Meine Jahre der Introspektion haben mir geholfen, schnell Resultate zu zeigen, das gebe ich zu. Ich hatte bereits einen Draht zu meinen Gefühlen, den die meisten anderen erst über lange Zeit aufbauen müssen. Therapie war für mich das absolut Beste, was mir passieren konnte. Mein Leben hat sich völlig verändert: ich habe unglaublich viel gelernt und meine Perspektive radikal verändert. Auch wenn es Höhen und Tiefen gab, bin ich heute, nur ein Dreivierteljahr später, glücklicher als mein ganzes Leben lang zuvor. Das Wichtigste was ich gelernt habe: Du musst deine Gefühle fühlen. Die Wurzel der meisten meiner Überlebensmechanismen war die Praxis der Verdrängung, der Idee, meine natürlichen Gefühle und Einstellungen wären irgendwie falsch. Leistungsdruck, obwohl mir meine Noten eigentlich egal waren; Self-Gaslighting, obwohl meine Gefühle angebracht waren; Ausflüchte, um meinen Gefühlen keinen Raum zu geben – denn für sie werde ich immer bestraft werden. Durch meine Mutter. Doch meine Mutter ist nicht mehr da.
Ich bin endlich wahrlich frei, weil ich meine Gefühle fühlen kann. Ich weiß, dass alles passieren kann, und alles ist gut, so wie es ist. Alles braucht seinen Raum. Und diesen Raum gebe ich ihm jetzt, meinem inneren Kind, und wie eine fürsorgliche Mutter, die ich selbst nie hatte, sorge ich dafür, dass mein inneres Kind in seinen Gefühlen frei bleiben darf. Ich weiß, dass es noch einige Sachen gibt, die ich aufarbeiten muss. Aber es ist besser, als ich es mir je vorstellen konnte.
Es wird besser werden!
Ich habe oft das Gefühl, ich kann von beiden Perspektiven auf diese Situationen blicken. Ich bin weit genug, um zu wissen, wie sich die geheilte Seele anfühlt, aber ich weiß auch noch genau, wie es war, in einer ausweglosen Situation zu stecken und nicht zu wissen, wann oder ob der Schmerz jemals endet. ES. WIRD. BESSER. WERDEN. Dieser etwas stumpfsinnige, einfache Satz hat mich durch alles gebracht. Es wird besser werden. Die Sonne geht jeden einzelnen Tag wieder auf, egal was kommt. Alles ist temporär, sowohl Gutes als auch Schlechtes – nichts ist permanent.
Zum Schluss möchte ich einen Auszug eines meiner Texte anfügen, der diese Essenz mit meinen eigenen Worten ausdrückt.
„if you can’t give yourself the love you need, despite me wishing you could; always remember this –
the sun always rises in the morning and sets in the evening in one long silent breath,
and leaves always die just to grow anew in the spring.
a song always ends, so it can be sung on repeat by one voice more hoarse and one with newly gained strength.
and just as the wind stops howling to make way for a sleeping sea,
both – the things you cherish and those that haunt you night and day – will seep through the cracks of the world below your feet
and finally be washed downstream; with streaks of joy and tears.
like a perfect puzzle, your soul has its place on earth. it’s found in baking cake and sharing it with your friends; in bringing your loved ones soup; and in every motion you make together with the world – you are ours and we are yours.“
Wenn du gerade selbst mit Angst, Depressionen oder anderen psychischen Herausforderungen kämpfst, haben wir hier einen Brief an dich geschrieben. DU kannst auch andere ermutigen, erzähle Deine Geschichte! Wir freuen uns auch riesig über deine Nachricht oder deinen Kommentar! Wenn dir der Blog gefallen hat, kannst du ihn natürlich gerne liken, teilen und uns auf Facebook und Instagram folgen @theoceaninyoumind