„Um 14 Uhr habe ich Therapie, danach hätte ich Zeit für ein Meeting.“ Das zu sagen, war nicht immer eine Selbstverständlichkeit. Auch, dass ich meine Therapie nun ganz offen in meinem Freund*innenkreis oder im Arbeitskontext kommunizieren kann, habe ich meinem mentalen Wachstum zu verdanken. Meta-Therapie sozusagen; also das Reden über Therapie. Welcome to my Grübel-Gehirn!
May we all heal from things we don’t speak about (yet).
2011. Das unaufhörliche Nachdenken (auch über’s Nachdenken) war nur ein Grund, warum ich mich vor 10 Jahren dazu entschied, mal mit jemandem zu reden. Zu diesem Zeitpunkt plagten mich sogenannte psychosomatische Beschwerden1 die mein Leben so sehr einschränkten, dass ich meinen Alltag nicht mehr bewältigen konnte. Neben Migräne und Erschöpfung gab es auch noch meine Endgegnerin: die chronische Blasenentzündung.
Mein Körper zeigte mir nicht nur, dass irgendetwas nicht stimmte, er schrie mich nahezu ununterbrochen an. Ich versuchte seine Zeichen zu deuten, indem ich Ärzt*innen in der ganzen Stadt aufsuchte, mich Praktiken unterzog und mich mit Antibiotika vollstopfte. Nichts half, ich verstand ihn einfach nicht. Dieser Leidensdruck zermürbte mich ganzheitlich, sodass eine psychologische Behandlung wie mein letzter Strohhalm wirkte.
Was hatte ich noch zu verlieren?
„Im Laufe der Therapie kann es passieren, dass Sie sich von ihrer Familie distanzieren, Ihren Job kündigen, Ihre Lebenssituation ändern oder Ihre jetzige Beziehung verlassen.“ Ich belächelte die Worte meiner Therapeutin. Wir saßen uns in Ikea-Schwingsesseln in einer Schöneberger Wohnung gegenüber. Hier gelandet bin ich durch zufällige Telefonnummern2, die ich unter der Googlesuche finden konnte.
Ein erstes Anamnesegespräch in Charlottenburg ergab, dass ich mich zwar bei verschiedenen Therapeut*innen vorstellen konnte, aber nur wenige davon auch wirklich längerfristig einen Platz boten. Ich hatte Glück und ging mit einer Empfehlung und einer neuen Telefonnummer wieder nach Hause. Ein paar Wochen später saß ich nun also vor der Frau, die in den nächsten 4 Jahren einen deep dive in die Vergangenheit mit mir machen sollte.
1 Psychosomatische Beschwerden Das bedeutet, Schmerzen sind nicht auf eine körperliche Ursache zurückzuführen, sondern haben ihren Ursprung im seelischen Bereich. Eine sehr bekannte Körper-Psyche-Relation sind Magenschmerzen bei Stress.
2 Zufällige Telefonnummern Natürlich kannst du ebenfalls auf GoogleMaps nach Psychotherapie-Praxen und deren Bewertungen schauen. Einfacher ist es allerdings, wenn du gezielt über Anlaufstellen in deiner Nähe suchst (Link unten). Wenn du kannst, überlege dir auch, was dir wichtig ist: Wie weit möchtest du höchstens zur Praxis fahren? Ist die Geschlechtsidentität deiner*s Therapeut*in entscheidend?
Und dann ging’s los
Nach fünf Sitzungen3, in denen ich einen groben Plan meiner größten Herausforderungen von damals und heute zeichnete, stand meine vorläufige Diagnose: Anpassungsstörung, Schmerzstörung, Angst und depressive Störung, gemischt. Welcome to the club! Es war ein schwankendes Gefühl, dass sich zwischen Erleichterung und Panik bewegte. Erleichterung deshalb, weil mein Zustand nun endlich ein professionelles Siegel hatte, für das ich mich nicht mehr (vor mit selbst) rechtfertigen musste. Panik deshalb, weil sich die Büchse der Pandora schlecht wieder schließen lässt, wenn man sie einmal geöffnet hat.
Ich begann also eine tiefenpsychologische Therapie4, die sich in ihrer Intensität meinen Umständen anpasste. Wir begannen mit einer Stunde in der Woche, erhöhten zwischenzeitlich auf drei und schlichen das Ende in immer größeren Abständen aus. Diesen ganzen Prozess entschieden wir gemeinsam – nur bei den Anträgen an die Krankenkasse war ich froh, dass ich mich darum nicht kümmern brauchte.
3 Fünf Sitzungen Die sogenannten probatorischen Sitzungen sind dafür da, um zu schauen, ob zwischen dir und deiner*m zukünftigen Psycholog*in die Chemie stimmt. Fühlst du dich wohl und kannst über alles reden? Auch wird am Anfang die Art der Therapie besprochen und ihre Dauer, z.B. Kurzzeit mit höchstens 25 Stunden oder Langzeit darüber hinaus. Du kannst diese Probegespräche in so vielen Praxen wie du möchtest machen, auch parallel.
4Tiefenpsychologische Therapie Verstehen lernen: von der Gegenwart in die Vergangenheit. Diese Therapieform hat sich aus der Freud’schen Psychoanalyse entwickelt. Sie nimmt an, das aktuelle Konflikte oder schmerzhafte Erfahrungen aus früheren Lebensphasen zu psychischen Erkrankungen führen können. Der Blick wird von der Gegenwart immer wieder zurück in die Vergangenheit gerichtet. Die Psycholog*innen helfen, unbewusste Konflikte zu erkennen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Sie unterstützen dabei, wiederholende Beziehungsmuster zu verstehen und zu verändern. In den Sitzungen halten sie sich sehr zurück, initiieren höchstens zur freien Assoziation oder bringen Probleme in einen Zusammenhang.
Wachstum ist nicht immer nice and easy
Die frisch aufgerissenen Wunden ließen den Schmerz erst einmal aufflammen. Mitten im Supermarkt blieb ich stehen, sackte zusammen und übergab mich in Tränen. All das, wofür ich jahrelang keinen Ausdruck fand, presste sich nun durch einen kleinen Spion zu meinem Bewusstsein. Ich wollte, dass es aufhört. Nicht selten kam ich auf den Gedanken, die Tür wieder zu schließen. Und als ich mich fragte, was ein Umdrehen bedeuten würde – unter meinem Schreibtisch weinen, weil ich mich verlassen fühlte oder in einer Beziehung meine Grenzen vernachlässigen, weil ich gemocht werden will – wusste ich: der Weg führt nur mittendurch.
Die Saisons vergingen und ich sah mich wie in einem Zeitraffer reden und schweigen, reflektieren und scheitern, entscheiden und begreifen. Ich lernte mich kennen. Ich bemerkte, dass mein Festhalten an alten Mustern auch bedeutete, nichts Neuem einen Platz in meinem Leben zu geben. Ich verstand erst, dass ich Hilfe brauchte, als ich sie bereits hatte. Und übrigens: von allem, was meine Therapeutin in der ersten Sitzung angekündigt hatte – Familie, Job, Lebenssituation, Beziehung – ist alles passiert. Und: ich bin mehr als dankbar dafür. Denn: ich habe nichts verloren, nur etwas mehr von dem dazu gewonnen, was mir gut tut.
Hilfreiche Links
Therapiesuche in deinem Bundesland: https://psychotherapie-online.info/psychotherapeutensuche
Wie anfangen? https://www.wege-zur-psychotherapie.org
Nützliches Wissen: https://www.therapie.de/psyche/info/
Podcasts über Therapie: https://www.sueddeutsche.de/medien/tipps-diese-fuenf-psychologie-podcasts-lohnen-sich-1.5189825
5 Säulen der Identität: https://dailymentor.de/5-saeulen-der-identitaet/
The Work in Aktion: https://thework.com/sites/de/ressourcen/ Selbstwirksamkeit: https://einguterplan.de/selbstwirksamkeit/
Wenn du gerade selbst mit Angst, Depressionen oder anderen psychischen Herausforderungen kämpfst, haben wir hier einen Brief an dich geschrieben. DU kannst auch andere ermutigen, erzähle Deine Geschichte! Wir freuen uns auch riesig über deine Nachricht oder deinen Kommentar! Wenn dir der Blog gefallen hat, kannst du ihn natürlich gerne liken, teilen und uns auf Facebook und Instagram folgen @theoceaninyoumind