Mein Name ist Suey. Ich bin Mitte 20 und schon mein halbes Leben krank. Komisch war ich wohl schon immer. Irgendwie. Im Kindergarten wollte ich kaum etwas mit den anderen Kindern zu tun haben und habe mich lieber mit meinen Erzieherinnen beschäftigt. Die anderen waren mir schlichtweg zu dumm und zu anstrengend.
Trotzdem verlief mein Leben erst einmal ganz normal – es lief sogar hervorragend. Ich hatte eine tolle Kindheit, was meiner großartigen Familie zu verdanken ist. Aber es zeigte sich schon früh, dass ich Probleme hatte, meine Impulse zu kontrollieren. Ich war cholerisch und neigte schon damals zu Wutausbrüchen und Fremdaggression. In der Regel war ich diejenige, die sich von anderen abgrenzte.
Ich wollte nicht mehr leben
Bis zu meinem 13. Lebensjahr. Da war ich das erste Mal schwer verliebt… – und erhielt einen Korb. Rückwirkend denke ich: „Wie lächerlich!“ Andere erleben schwere traumatische Situationen und meine Krankheitsgeschichte beginnt mit einem Korb. Aber so ist es, wenn man die entsprechende Veranlagung hat und zusätzlich hochsensibel ist. Mit 13 Jahren erlebte ich meine erste depressive Episode, mehr oder minder unbemerkt. Ich redete nicht mehr viel und zog mich meist zurück. Kurz darauf begann ich, mich selbst zu verletzen und auch der Wunsch zu sterben trat erstmals auf.
Mit den Jahren rückten die Depressionen immer mehr in den Hintergrund. Dafür wurde meine Stimmung labiler und die Impulsausbrüche heftiger. Ich war oft getrieben von einer wahnsinnigen Wut – meist auf mich selbst. Ich begann Abführmittel zu nehmen, um Gewicht zu verlieren. Ich schloss mich der Pro-Ana-Community an und wollte eigentlich nur eins: dünn sein. Die Reglementierung „Das ist gutes Essen, das ist schlechtes Essen“ führte zu Fressattacken, denen ich mit Erbrechen entgegenwirkte.
Meine ersten Therapien erhielt ich mit 16 Jahren. Ich bekam Psychotherapie und Medikamente. Seit Beginn meiner „psychologisch-psychiatrischen“ Karriere, habe ich zig mal die Therapeuten und Ärzte gewechselt und alle möglichen Psychopharmaka genommen.
Borderline
Die Situation eskalierte Anfang 2016. Ich erlebte eine weitere depressive Episode, die so heftig war, dass ich mich selbst davor erschreckte. Suizidgedanken waren mir durchaus nicht fremd, allerdings war dieser Drang, mir etwas anzutun, auf einmal so heftig und so real, dass ich kaum anders konnte, als mir Hilfe zu suchen. So kam es zu meinem ersten stationären Aufenthalt, den ich aber frühzeitig abbrach, um mich in einer Tagesklinik behandeln zu lassen. Erst dort bekam das Kind, das Geschwisterchen meiner Depression, einen Namen: Borderline.
Wenn ich ehrlich bin, hatte ich bereits damit gerechnet. Die Diagnose überraschte mich nicht. Sie schockierte mich auch nicht. Ich sah sie eher als Chance. Eine Chance, endlich eine angemessene Behandlung zu erhalten. So ließ ich mich ein weiteres Mal teilstationär behandeln, allerdings nahm ich dieses Mal an einem achtwöchigen DBT-Programm (Dialektisch-Behaviorale Therapie) teil. Zum ersten Mal, seit 9 Jahren Therapie, hatte ich das Gefühl, dass sich in meinem Kopf etwas „bewegte“. Zum ersten Mal sah ich eine Chance für mich, Licht am Ende des Tunnels.
Ich habe mich damit abgefunden
Ich weiß nicht, was es bedeutet, ausgeglichen und entspannt zu sein. Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, angemessene Gefühle zu haben. Ich kenne das nicht. In mir war immer „zu viel“.
Aber es ist okay für mich. Ich habe mich damit abgefunden. Würde mir ein Arm fehlen, würde ich meinem Körper auch nicht abverlangen können, sich einen neuen Arm wachsen zu lassen.
Ich mag mein Leben
Borderline wird oft als Endstation dargestellt. Menschen mit Borderline seien nicht beziehungsfähig, seien zerstörerisch. Ich möchte an dieser Stelle Mut machen: Ich bin verheiratet, habe einen Festvertrag auf der Arbeit, ich habe studiert und bin selbst in einem helfenden Beruf tätig. Man kann sein Leben in den Griff bekommen.
Es wird vielleicht nie „normal“ sein, es wird immer wieder schwierig sein. Auch heute bin ich noch depressiv und kann meine Gefühle und Impulse kaum kontrollieren. Ich schwanke zwischen einem absolut übersteigertem Selbstwertgefühl, Selbsthass und kompletter Selbstablehnung.
Aber wisst ihr was? Ich mag mein Leben. So ganz grundsätzlich. Ich habe – objektiv betrachtet – ein gutes Leben. Einen tollen Ehemann, eine fantastische Familie. Ich lasse nicht zu, dass meine Krankheiten mir das kaputtmachen. Ich lasse nicht zu, dass meine Krankheiten mir Scheuklappen anlegen, sodass ich nur noch das Schlechte sehe.
Du bist so viel mehr
Ich bin keine Borderlinerin. Ich bin Suey, und ich habe Borderline. Ich bin nicht meine Krankheit. Ich bin ich. Ich bin eine Tochter, Ehefrau, Enkelin, Nichte, Kollegin, Nachbarin. Und ich bin krank. Mehr ist es nicht. Meiner Meinung nach muss man aufhören, einer Krankheit zu viel Macht zu geben, wenn man auf Dauer mit ihr leben möchte. Man ist so viel mehr neben der Krankheit. Das darf man nicht vergessen.
Wenn du gerade selbst mit Angst, Depressionen oder anderen psychischen Herausforderungen kämpfst, haben wir hier einen Brief an dich geschrieben. DU kannst auch andere ermutigen, erzähle Deine Geschichte! Wir freuen uns auch riesig über deine Nachricht oder deinen Kommentar! Wenn dir der Blog gefallen hat, kannst du ihn natürlich gerne liken, teilen und uns auf Facebook und Instagram folgen @theoceaninyourmind.