Hallo, mein Name ist Nicole, ich bin ein Vierteljahrhundert alt und möchte euch nun meine Geschichte erzählen.
Sie beginnt mit einem kleinen, nachdenklichen Mädchen, das schon immer anders war als alle anderen. Ruhig, zurückhaltend und nur allzu oft in ihrer eigenen kleinen Traumwelt lebend. Das war ich. Und niemand störte sich an meiner Art, bis ich eingeschult wurde.
Ich sei zu ruhig, sagte man mir
Alle sagten mir, ich solle mehr aus mir heraus kommen. Man prophezeite mir keine große Zukunft, wenn ich mich nicht ändern würde. Ich gab mein Bestes um so zu werden, wie man mich haben wollte, aber es gelang mir nicht, was mich stark verunsicherte. Dadurch begann ich immer mehr und immer häufiger an mir selbst zweifeln ließ.
Allen Prophezeiungen zum Trotz schaffte ich mein Abitur. Und ich hatte die Nase voll davon, ständig unterschätzt zu werden. Gleichzeitig fühlte ich mich nicht gut genug für einen Beruf in der „normalen Welt“, hatte man mir doch von Kindesbeinen an eingetrichtert, ich sei nicht „genug“.
So entschied ich mich dazu, zur Bundeswehr zu gehen und die Laufbahn des Feldwebels einzuschlagen. Ich wollte allen zeigen, dass ich mehr konnte, als man mir zutraute. Die Reaktionen hinsichtlich meiner Berufswahl waren recht positiv, wie zu erwarten, zeigten sich alle überrascht, aber teilweise auch sehr beeindruckt.
Ich war zunächst sehr erfolgreich.
Sportlich und überaus gut im Schießen wurde ich schnell beliebt bei meinen Kameraden. Meine Vorgesetzten sagten mir eine große Zukunft als Feldwebel voraus. Ich fühlte mich stark und irgendwie angekommen. Doch es blieb nicht dabei. Der Druck wurde größer, die Erwartungen an mich höher. Und wieder sagte man mir, ich sei zu still und solle mehr aus mir herauskommen.
Ich gab wirklich alles und wuchs zunächst über mich hinaus. Auf einmal bemerkte ich jedoch, dass ich nicht mehr so leistungsfähig war wie zuvor, und mit den anderen nicht mehr mithalten konnte. Ich ging zum Arzt, der meine körperlichen Symptome wie Müdigkeit und Kurzatmigkeit untersuchte und feststellte, dass ich kerngesund war. Doch je mehr Verantwortung man mir übertrug, desto größer wurde der Druck, der auf mir lastete. Meine Vorgesetzten versuchten mir zu helfen, indem sie mich vor immer größere Herausforderungen stellten, damit ich daran wachsen konnte. Doch dadurch fürchtete mich vor jedem neuen Tag und den Herausforderungen, die er bringen würde, und denen ich mich nicht gewachsen fühlte.
Jeden Freitag fuhr ich nach 450km nach Hause, und jeden Sonntagabend wieder zur Arbeit. Die Wochenenden wurden zu einem unglaublich kostbaren Gut. Ich unternahm daheim so gut wie nichts mehr, sondern genoss einfach die kurze Zeit, in der man von mir nichts erwartete. Der Abschied von meiner Familie am Sonntag fiel mir immer schwerer. Oft weinte ich auf der langen, einsamen Fahrt, und dachte nach. Was ist nur mit mir los? Und vor allem: Wie komme ich aus dieser Situation wieder heraus? Manchmal dachte ich mir, es wäre besser, einfach gar nicht mehr da zu sein. Ich hatte schon von Depressionen gehört und vor Jahren etwas darüber gelesen.
Aber, Depressionen? Ich doch nicht!
Ratlos und auf der Suche nach Antworten googelte ich schließlich meine Symptome. Antriebslosigkeit. Schlaflosigkeit. Hoffnungslosigkeit. Angst. Google zeigte mir deutlich, dass es sich um eine depressive Episode handeln könnte. Doch ich redete mir ein, ich hätte sicher keine depressive Episode, ich müsse mich nur langsam mal zusammenreißen! Doch mir war auch klar, dass es so nicht weitergehen konnte.
Ich hatte große Bedenken zum Arzt zu gehen. Was ist, wenn man mir nicht glaubt? Ich hatte Angst davor, dass jemand denken könnte, ich sei faul und hätte einfach keine Lust zu arbeiten. Ich sprach mit meinen Eltern darüber, dass es mir nicht gut ging und sie ermutigten mich dazu, zum Arzt zu gehen. So nahm ich all meinen Mut zusammen und meldete mich krank.
Zu meiner Überraschung nahm mich der Arzt vollkommen ernst und schickte mich für zwei Wochen nach Hause. Diagnose: Mittelgradige depressive Episode. An diesem Tag begann für mich eine Odyssee, die drei Jahre andauern sollte. Ich wurde dauerhaft krankgeschrieben und blieb zu Hause, erhielt Medikamente, brachte zwei Klinikaufenthalte hinter mich und begann eine Psychotherapie. Ich lehnte schließlich meine Beförderung zum Feldwebel ab und strebte eine Entlassung aus gesundheitlichen Gründen an. Es ging mir teilweise sehr schlecht, mein Leben erschien mir sinnlos. Der Gedanke an meine ungewisse Zukunft machte mir Angst. Bald würde ich aus der Bundeswehr entlassen werden. Und dann?
Ich machte irgendwann einen Test im Internet, um einen zu mir passenden Beruf zu finden. Der Test sollte zunächst bestimmen, welchem Persönlichkeitstyp ich nach dem Myers-Briggs-Typenindikator (MBTI) zuzuordnen war. Der Beruf, der mir vorgeschlagen wurde, geriet schnell in den Hintergrund. Vielmehr fesselte mich die Beschreibung meines Persönlichkeitstyps (INFJ). Ich erkannte mich in allen Punkten genauestens wieder und fand auch entsprechende Facebook-Gruppen für meinen Typen.
Ich erkannte endlich, dass ich nicht „falsch“ bin
Es gab noch mehr Menschen wie mich, die mit denselben „Problemen“ zu kämpfen hatten. Zu still, zu zurückhaltend. Doch nicht wir sind das Problem. Mit uns ist alles in Ordnung. Wir haben lediglich nicht die Eigenschaften, die von der Gesellschaft bevorzugt werden, wie z.B. Extraversion. Diese Entdeckung hat mein Leben verändert. Alles, was man mir von klein auf vorgehalten hatte, war falsch.
Ich war nie zu still. Ich war nie zu zurückhaltend. Ich war immer Ich. Und genau so kann ich bleiben. Und ich begann, meine „Schwächen“ als Stärken zu sehen. Das ist nicht leicht und gelingt mir auch nicht immer. Doch es hilft mir enorm, mir vor Augen zu halten, dass ich so, wie ich bin, richtig bin. Daraus schöpfte ich so viel Kraft, dass ich irgendwann damit begann, spazieren zu gehen. Aus kurzen Strecken durch den Park wurden kilometerlange Wanderungen durch die Wälder in der Umgebung, und langsam kehrte meine Lebensfreude zurück. Die Natur entpuppte sich als meine beste Medizin.
Heute kann ich sagen, dass es mir gut geht.
Ich bin noch immer krankgeschrieben, noch immer Soldatin, aber ich werde demnächst entlassen. Ich habe meine Therapie nicht wieder aufgenommen und habe auch meine Medikamente abgesetzt, weil sie mir nie etwas gebracht haben. Das ist in manchen Fällen nicht ratsam, aber ich persönlich schaffe es mittlerweile, mir selbst zu helfen. Gewissermaßen habe ich es allein aus diesem tiefen, dunklen Brunnen der Depressionen herausgeschafft, worauf ich sehr stolz bin.
Ich habe noch immer Selbstzweifel und Momente, in denen es mir schlecht geht. Aber es gelingt mir recht gut, die Kontrolle über meine Gedanken zu behalten. Manchmal inspirieren sie mich zu melancholischen Gedichten. Traurigkeit hat für mich durchaus auch schöne Seiten. Derzeit schreibe ich Bewerbungen für einen Ausbildungsplatz. Mit meinem Leben geht es langsam bergauf. Rückblickend bin ich irgendwie froh über all das, was ich durchmachen musste. Ich habe gemerkt, wie sehr ich mich eigentlich mein ganzes Leben lang von mir selbst entfernt habe. Dass ich immer versucht habe, zu dem Menschen zu werden, den andere haben wollten, weil sie mich nicht so akzeptierten, wie ich nun mal bin.
Und schließlich ist jeder seines Glückes Schmied, nicht wahr?
Ich weiß auch, dass die nächste große depressive Episode möglicherweise hinter irgendeiner Ecke auf mich wartet. Vielleicht kommt sie auch gar nicht hervor. Doch was auch passiert, dieses Mal bin ich vorbereitet. Und seien wir mal ehrlich: Das Leben ist viel zu schön, um den Kopf in den Sand zu stecken!
Wenn du gerade mit Angst, Depressionen oder anderen psychischen Herausforderungen kämpfst, haben wir hier für dich die ersten Hilfemöglichkeiten aufgeschrieben und auch einen Brief an dich geschrieben. DU kannst auch andere ermutigen, erzähle Deine Geschichte! Wir freuen uns auch riesig über deine Nachricht oder deinen Kommentar! Wenn dir der Blog gefallen hat, kannst du ihn natürlich gerne liken, teilen und uns auf Facebook und Instagram folgen @theoceaninyourmind.
Eine Antwort
Das hast du schön zusammengefasst! Sehr ermutigend 🙂 So geht es vielen, leider bleibt es unausgesprochen.
Ich kann das gut nachvollziehen, das wurde und wird mir immer noch gesagt. Aber ich komme damit auch immer mehr zurecht, so wie ich bin. Der Weg dahin, bis ich es gecheckt habe, war lange. Aber ich bin angekommen und lerne noch weiter 🙂 Gott sei der Dank dafür 🙂
Alles Gute wünsche ich dir für deinen nächsten Beruf und für dein Leben! 🙂