Marcels Geschichte

Heute ist kein guter Tag. 

Ein Alptraum reißt mich wie üblich aus dem Schlaf. Es wird kein guter Tag, kann kein guter Tag werden, weil er sich anfühlt wie jeder andere Tag in den letzten Monaten. Neben meinem Bett stehen die üblichen Bierflaschen, die ich gestern geleert habe, in der Hoffnung den Schmerz zu betäuben. Ich wünsche mir nichts mehr, als dass jemand die Tür zu meinem Zimmer öffnet, mich in den Arm nimmt und mir sagt, dass alles gut ist. Doch was sich hinter meiner Zimmertür abspielt, welchen Kampf ich führe, das bleibt mein Geheimnis. 

Ich habe mittlerweile die Diagnose Depression erhalten, mir professionelle Hilfe gesucht, doch so sehr mich das auch bei meiner Krankheit unterstützt, mein Kampf findet nicht in den vier Wänden der therapeutischen Praxis statt. Sondern im Leben da draußen, in den zwölf Quadratmetern, die sich mein WG-Zimmer nennen. Niemand öffnet die Tür. Niemand nimmt mich in den Arm. Da ist nur der kleine Teddybär, den ich mit meiner Hand festhalte und dem ich kurz in die Augen schaue.

 

Wo um Himmels Willen bin ich in diesem Leben nur falsch abgebogen?

Wieso muss ich heute mit dieser scheiß Krankheit leben, die mir das Recht genommen hat, glücklich zu sein? Ich frage mich, ob ich überhaupt falsch abgebogen bin. Denn wer falsch abbiegt, denke, der muss ja irgendwann mal auf dem richten Weg gewesen sein. Ich lege meinen Teddy zur Seite, stehe auf, weil ich eben aufstehen muss, und schleppe meinen Kadaver erst Richtung Badezimmer, dann Richtung Küche, um mir einen Kaffee zu machen. Ich will irgendwie funktionieren, will den Anschein erwecken, dass ich all das im Griff hätte. Mein Leben hat keinen Sinn, es erfüllt eine Funktion.

Die Küchentür geht auf und meine mittlerweile beste Freundin kommt herein. Wir betreiben den üblichen Small Talk, den man halt so führt. Ich setze mich auf die Arbeitsfläche der Küchenplatte, meine Füße baumeln nach unten und ich halte meine Kaffeetasse mit beiden Händen fest. Sie setzt sich gegenüber auf den Küchenstuhl, schaut mich an und sagt „Kann es sein, dass es dir nicht gut geht?“ Ich weiß nicht, was es war, doch obwohl mir die Frage „Wie geht’s dir“ davor wahrscheinlich schon tausend Mal gestellt wurde, irgendwas war anders. 

 

Für einen kleinen Moment musste ich nicht Schauspieler sein.

Ich spürte, wie ein riesiger Klos in meinem Hals mich daran hinderte auch nur ein Wort rauszubringen, doch irgendwas, auch wenn ich nicht mehr weiß was, habe ich gesagt und dann liegen wir uns in den Armen. Da war sie also, meine Umarmung. Für einen kurzen Moment fühlte es sich so an, als ob alles gut sei. In diesem Moment war mein Leben mehr als eine Funktion, sondern das Gefühl von Geborgenheit. All das liegt nun schon ein paar Jahre zurück. Und auch wenn es nur ein kleiner Ausschnitt, ein kleiner Einblick in mein Leben mit der Krankheit Depression ist, so werde ich diesen Moment wohl nie vergessen. 

So recht erklären kann ich das nicht, wieso mir genau dieser Moment so im Gedächtnis geblieben ist. Vielleicht weil es nicht die vermeintlich großen Dinge und Taten sind, die das Leben ausmachen, sondern die Kleinigkeiten, die sich als diejenigen entpuppen, die uns im Gedächtnis bleiben. Vielleicht weil dieser Moment mir so viel sagt, wie wir eigentlich mit dieser Krankheit oder vielleicht ja sogar generell miteinander umgehen sollten. Nämlich dass wir den Mut haben müssen nachzufragen, wenn wir uns Sorgen machen. Dass wir den Mut haben müssen, einander zuzuhören und ja, dass wir auch den Mut haben zu sagen „Ich brauche Unterstützung und es ist schön, dass du da bist.“

 

Heute weiß ich, dass das alles schon so seinen Sinn hat.

Inzwischen bin ich, was man im Neu-Deutschen „Mental Health Advocate“ nennen könnte. Ich halte Vorträge an Schulen und Hochschulen, teile meine Erfahrungen und werde von den Geschichten anderer Menschen bereichert, die mit mir über das Thema Mental Health sprechen. Immer wieder darf ich erfahren, dass Menschen es als mutig erachten, wenn ich von meiner Krankheit erzähle. Und so sehr mich das auch freut und ermutigt, bringt mich das Wort „Mut“ immer wieder zum Nachdenken.

Denn wenn ich heute zurückblicke und mich frage, wo in meinem Leben ich denn mutig war, dann sind es nicht die Vorträge, die mir das Gefühl geben, mutig zu sein. Es ist dieser Moment in der Küche meiner WG, in dem ich die Maske abgelegt habe und gemerkt habe, dass ich diese Last nicht alleine tragen will. Nicht alleine tragen muss. Denn egal wie viele Täler du und ich schon durchschritten haben und egal wie viele auch noch kommen mögen: Es lohnt sich zu kämpfen, denn das Leben ist einfach viel zu schön! 

Der Weg meines Lebens hat mir trotz, oder vielleicht auch wegen dieser doofen Krankheit Menschen und Momente geschenkt, die ich niemals missen wollen würde. In diesem Sinne schließe ich mit den Worten:

Heute ist ein schöner Tag.

 


Wenn du gerade selbst mit Angst, Depressionen oder anderen psychischen Herausforderungen kämpfst, haben wir hier einen Brief an dich geschrieben. DU kannst auch andere ermutigen, erzähle Deine Geschichte! Wir freuen uns auch riesig über deine Nachricht oder deinen Kommentar! Wenn dir der Blog gefallen hat, kannst du ihn natürlich gerne liken, teilen und uns auf Facebook und Instagram folgen @theoceaninyourmind.

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