Jules‘ Geschichte

Mein Name ist Jules, ich bin 22 Jahre alt und mache momentan meinen Bachelor in „Kunst-Pädagogik-Therapie“. Im Herbst werde ich mein Master-Studium in „Kunsttherapie“ machen. Wie ich zu diesem Studienfach gekommen bin, hat viel mit meiner eigenen Geschichte zu tun.

Was ich erlebt habe, fühlt sich nach so viel an, dass man es in einem einzigen Post vermutlich nicht schreiben kann, aber ich versuche auf die wichtigsten Punkte einzugehen. 

Als Kind war ich häufig mit meiner Familie umgezogen, vom Norden, in den Osten, dann in die Mitte und in den Westen Deutschlands. Nach dem letzten Umzug fiel es mir schwer wieder in einer neuen Umgebung Fuß zu fassen. Ich vermisste meine Freunde und kämpfte jahrelang mit diesem „Verlust“, der wie ein starker Einschnitt in mein Leben gewirkt hatte.

Außerdem verlor ich kurz darauf auch die enge Bindung zu meinem (Halb-)Bruder, da dieser, aufgrund unserer Familiengeschichte im Alter von 16 Jahren zu seinem Vater zog. Nachdem er weggezogen war, erfüllte eine große Leere mein Leben und ich fühlte mich ab diesem Zeitpunkt schrecklich einsam.


Ich verlor den Bezug zu mir selbst

Meine Probleme begannen hauptsächlich im Alter von 12 Jahren. Erst entwickelte ich, nachdem ich jahrelang in der Schule für mein Aussehen und meine Interessen – letztlich meiner Selbst wegen – gemobbt wurde, eine Soziale Phobie. Ich weiß nicht mehr genau, ob alles auf einmal passierte, oder nacheinander, jedenfalls entwickelte sich der überwiegende Teil meiner ‚Störungen‘ zwischen meinem 12. und 15. Lebensjahr. Aufgrund des Gefühls nirgendwo hinzugehören einsam zu sein und sich unverstanden zu fühlen, flüchtete ich mich in eine Magersucht und in selbstverletzendes Verhalten. Ich lehnte meinen Körper ab, hasste mich und die Welt. Irgendwann gipfelten diese Probleme in starken Depressionen und chronischen Suizidgedanken.

Im Alter von 15 Jahren schrieb ich einen Text, den ich vor wenigen Tagen wiedergefunden habe. Ich war selbst erstaunt, wie deutlich meine Verzweiflung daraus hervorging:

„Ich bekomme mein Leben nicht mehr auf die Reihe, aber das sage ich niemandem, und zwar aus Angst. Angst ausgelacht zu werden oder Ähnliches. Es läuft alles bergauf und bergab, viel zu schnell und viel zu viel. Alles rast an mir vorbei und stellt mich vor unüberwindbare Probleme. Ich habe versucht mir einzureden, dass ich keine Probleme hätte und es mir gut ginge, ganz gleich wie es mir in diesem Moment wirklich geht. Meist behalte ich meine Gedanken und Gefühle bei mir, sodass niemand meine Gefühle erfährt, aber das ist schwieriger als ich dachte. Oft passiert mir dasselbe wie bei einem Wasserkocher; nach außen hin verberge ich meine richtigen Gefühle und wirke sehr ruhig, freundlich und glücklich. Ich will niemandem zeigen wie ich wütend, traurig oder hilflos wirke, denn das gilt allgemein ja als schwach und weinerlich. Doch irgendwann springt visuell gesehen der Deckel vom Wasserkocher ab und ich beginne andere rücksichtslos und wahllos anzuschreien oder muss plötzlich heftig weinen. Diese Verdrängung ist für mich täglich eine große Qual und ein Hindernis im Alltag, doch ohne sie könnte ich meine Emotionen nicht unter Kontrolle halten.“

Ich spürte absolut nichts mehr

Ich tingelte von einer unbefriedigenden Beziehung zur nächsten. Eine toxischer als die andere. Ich entfremdete mich komplett von mir selbst und mit Abschluss des Abiturs fiel ich in ein tiefes Loch aus Leere, noch viel schlimmerer Einsamkeit und Selbstzerstörung. In meinen schlimmsten Momenten, da war ich gerade 18, spürte ich absolut gar nichts mehr.

Keine Gefühle, keine Freude, keinen Schmerz. Ich versuchte nach außen hin normal zu funktionieren, aber ich konnte auf nichts mehr reagieren. Mir wurde alles komplett gleichgültig. Nur das Gefühl von Hungern und Selbstverletzung gaben mir noch irgendeinen Anhaltspunkt über mich selbst. Durch das Schneiden konnte ich ‚atmen‘, mich wieder fühlen.

Doch auf lange Sicht konnte das so nicht weitergehen. Also begab ich mich in eine stationäre Therapie, vordergründig wegen meiner Essstörung, Ängste und Depressionen, aber hinter alledem steckte noch deutlich mehr. Im Rahmen der stationären Therapie erhielt ich erstmals die Diagnose ‚Borderline-Persönlichkeitsstörung‘. Damals wusste ich mit dem Begriff wenig anzufangen, obwohl ich mich mit der Beschreibung „emotional instabil“ sehr gut identifizieren konnte.

Als ich mehr über die Diagnose lernte, verstand ich mich erstmals in meinem Leben. Meine Denkweisen, mein Verhalten und meine ‚Eigenarten‘ ergaben auf einmal Sinn. Später kamen noch der Verdacht auf eine ‚Ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung‘ hinzu und die Diagnose einer Autoimmunerkrankung.


Ich bin ein neuer Mensch

Seit diesem stationären Aufenthalt, bei dem ich unter anderem eine Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) besuchte, der inzwischen 4 Jahre her ist, hat sich sehr viel in meinem Leben getan. Es ist, als wäre ich eine andere Person geworden. Ich begann mir eine Tagesstruktur aufzubauen, auf ein Ziel hinzuarbeiten und fand einen großartigen Partner, mit dem ich heute noch zusammen bin. Ohne ihn hätte ich es nie so weit gebracht. Er hat mich in meinen besten und in meinen schlimmsten Zeiten begleitet.

Aber auch mein Studium hat erheblich dazu beigetragen, dass es besser wurde. Da gab es eine Aufgabe für mich. Es ging weiter im Leben. Ich habe heute zwar mit einigen Dingen immer noch Probleme, brauche jedoch keine Medikamente mehr und erfülle inzwischen auch nicht mehr genügend Kriterien für eine Persönlichkeitsstörung. Ich nehme mir ein Problem nach dem anderen vor, das ich in den Griff bekommen möchte.

Mittlerweile kann ich mich kaum noch daran erinnern, wie ich mich früher gefühlt habe. Die Tiefs meines Lebens sind bei Weitem nicht mehr so tief wie früher.


Du schaffst es auch, Schritt für Schritt!

Das Wichtigste auf diesem Weg sind zwei Dinge: Arbeit an sich selbst und Geduld mit sich selbst. In der Dialektisch-Behavioralen Therapie habe ich gelernt, dass es wichtig ist Dinge zu verändern, aber bevor man sie verändern kann, muss man sie erst einmal akzeptieren.

Genauso muss man akzeptieren, dass es nicht von Heute auf Morgen besser wird und es vollkommen in Ordnung ist, dass man kleine – manchmal sogar winzig kleine – Schritte macht. Das Credo lautet: „Ich kann nicht alles auf einmal wollen.“ Egal wie groß der Berg ist und egal, wie langsam man geht, wenn man kontinuierlich dabei bleibt, erreicht man irgendwann den Gipfel und kann sich stolz auf die Schulter klopfen.

Ich bin so dankbar für Therapie, die mir beibringt mit meinen Gedanken umzugehen. Ich bin so dankbar für Freunde, die mich durch meine Überforderungen tragen. Ich will genau so ein Freund sein, zu dem man kommen kann und einfach teilt was dich beschäftigt. Ich glaube so verändern wir die Welt gemeinsam, ein kleines bisschen mehr Selfcare, ein kleines bisschen mehr die eigenen Emotionen ernst nehmen und ein kleines bisschen normaler machen die eigene Geschwindigkeit zu finden. 




Wenn du gerade selbst mit Angst, Depressionen oder anderen psychischen Herausforderungen kämpfst, haben wir hier einen Brief an dich geschrieben. DU kannst auch andere ermutigen, erzähle Deine Geschichte! Wir freuen uns auch riesig über deine Nachricht oder deinen Kommentar! Wenn dir der Blog gefallen hat, kannst du ihn natürlich gerne liken, teilen und uns auf Facebook und Instagram folgen @theoceaninyourmind.

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