Tamaras Geschichte

Alles ist schön und so unfassbar lustig, könnte Himmel hoch jauchzend Bäume ausreißen. – „Wollen wir was machen?“ – Arbeiten, dann Sport, dann aufräumen und putzen, dann was trinken gehen, anschließend feiern, die ganze Nacht durchtanzen, anschließend wieder arbeiten. Schlaf? Vollkommen überbewertet. Wer braucht den schon? Essen? Nicht nötig.

– „Hey, ich muss dir leider für heute Abend absagen, tut mir leid“ – lautet meine Nachricht. 

– „Alles okay bei dir?“ – die Antwort. 

– „Ja, ja, alles gut, danke dir.“ – Tippt die Maske. 

– „Bitte lass uns telefonieren oder komm vorbei und wir reden, vielleicht schweigen wir auch, ich will nur nicht alleine sein.“ – würde ich eigentlich gerne sagen.

Der Kopf ist voll, alles dreht sich.

Die Gedanken tief schwarz, alles ist scheiße, alles traurig. Ich bin schlecht, ich bin zu dick, zu dumm, nicht genug. Was ist genug? Keine Ahnung. Jedenfalls nicht ich. Der Körper will sich bewegen, die Beine nicht mehr still zu halten, die linke Hand kratzt den rechten Arm, bis es rot wird. Der Kopf will nur schlafen, sieht alles finster, kann nicht mehr, kann aber auch nicht aufhören zu denken. Gefangen in dieser inneren Unruhe, will ich doch nur endlich meine Ruhe habe.  

Ich versinke in Gedanken, tiefer und tiefer und tiefer. Habe das Gefühl, die tosende Meeresströmung reißt mich mit sich und ich kann mich so grade noch mit einer Hand am Steg halten. Eine große Welle, der Steg bricht weg. Das Meer hat mich fest im Griff, ich sinke tiefer und tiefer bis ich nicht mehr da bin. Das Herz schlägt noch, die Lunge atmet, doch der Geist ist versunken in den Untiefen des düsteren Gedankenkarussells.

Ich erkenne mein Spiegelbild nicht mehr.

Die Tattoos an den Armen kenne ich, weiß dass es meine sind, doch erkenne die Arme nicht als meine, spüre sie nicht, kann sie kaum noch bewegen.

Ein Schnitt in den linken Arm, wie ein großer Schwimmzug Richtung Meeresoberfläche. Aaaaah Luft! Ich sehe den Himmel wieder. Noch eine Welle, noch ein Schnitt. Bis ich endlich wieder gestrandet bin. 

Völlig erschöpft, weiß nicht wo ich bin, weiß nicht was passiert ist, komme nur langsam wieder zu mir, aber bin am Leben. Langsam beginne ich wieder, meinen Körper wahrzunehmen, mich selbst wahrzunehmen. Meine Arme, das sind meine, ich spüre sie wieder. Dieser Mensch da im Spiegel, das bin dann wohl auch ich. Plötzlich ist alles still, der Sturm kommt zum Erliegen.

Was ist da grade passiert? Ich weiß es nicht. 

So in etwa fühlen sich wohl die Stimmungsschwankungen eines Borderliners an. Genauer gesagt: meine Stimmungsschwankungen. Mir ging es schon lange nicht gut. Getrieben von innerer Unruhe, wahnsinniger Anspannung, Selbstzweifeln, einem Selbstwertgefühl, dass gelinde gesagt nicht existent war, habe ich mich trotzdem immer irgendwie auf den Beinen gehalten. „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ hat meine Mutter immer gesagt. „Stell dich nicht so an“ oder „du tust doch nur so, als seist du krank.“ mein Vater.

Tagsüber Schule, dann arbeiten und zwischendurch noch auf meine kleinen Geschwister aufpassen, nebenher irgendwie Abi machen. Das war mein Alltag. Ich war große Schwester, Ersatzmutter und -vater und theoretisch auch ein Teenager. Aber eins war ich solange ich mich erinnern kann nie: Tochter. Kind. Verletzlich. Jemand der etwas mal nicht hinbekommt. Jemand der auch mal Hilfe braucht. Jemand der auch einfach mal seine Ruhe hat.

Zeit für mich. Was bedeutet das?

Umso schwerer fiel es mir, mir Hilfe zu suchen. Mit viel Unterstützung meiner beiden besten Freundinnen, habe ich dann den Weg in die Klink gewagt. Doch dort schickte man mich wieder weg. „Du tust doch nur so“ hörte ich die Stimme meines Vaters in meinem Kopf. Als ich dann mit halb offenen Pulsadern in meiner Wohnung aufwachte, beschloss ich es doch nochmal zu versuchen. Der Arzt im Krankenhaus fragte mich, ob das Absicht gewesen wäre. Plötzlich dachte ich mir: „der glaubt mir doch eh nicht“ und sagte nein. Ich fuhr also zusammengeflickt wieder nach Hause. Ein paar Tage später wieder der Zusammenbruch. Jessy fährt mich wieder in die Klinik, endlich werde ich aufgenommen. Endlich.

Der Oberarzt der Geschlossenen schickte mich dann allerdings mit der Diagnose Borderline wieder nach Hause. Komplett überfordert mit der Diagnose und unendlich wütend auf die Aussagen des Arztes, habe ich es kaum eine Woche zuhause ausgehalten. Ein neuer Versuch in einer anderen Klink. Und ich werde tatsächlich endlich ernst genommen. Ab da hatte ich neue Hoffnung. Die Zeit in dieser Klinik hat mir wahnsinnig viel gebracht. Ich habe wirklich tolle Leute kennen gelernt und dort auch meine Therapeutin gefunden. 

Es geht weiter. Irgendwie. Immer.

Natürlich gibt es auch heute noch gute und schlechte Tage. Tage, an denen ich einfach nicht mehr kann, nicht weiter weiß. Ich war am Ende, stand am Abgrund, bin runtergesprungen und im Sicherheitsnetz gelandet. 

Die Suche nach Therapieplätzen oder gar Klinikplätzen kann furchtbar sein und ist grade in einer akuten Phase besonders schwer, aber es lohnt sich! Lasst uns nicht aufgeben. Jeder von uns ist es wert sich gut zu fühlen, stolz zu sein, fröhlich zu sein und ja, auch traurig zu sein. Das ist in Ordnung. Gefühle sind okay. Wir sind alle Menschen, keine Maschinen. Wir müssen nicht funktionieren, wir sollten leben.


Wenn du gerade selbst mit Angst, Depressionen oder anderen psychischen Herausforderungen kämpfst, haben wir hier einen Brief an dich geschrieben. DU kannst auch andere ermutigen, erzähle Deine Geschichte! Wir freuen uns auch riesig über deine Nachricht oder deinen Kommentar! Wenn dir der Blog gefallen hat, kannst du ihn natürlich gerne liken, teilen und uns auf Facebook und Instagram folgen @theoceaninyourmind.

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