Hallo, ich bin Lena, 17 Jahre alt und mache voraussichtlich bald mein Abitur. Ich möchte erzählen, wie mein Leben vor sechs Jahren aus den Fugen geraten ist, und wie ich mich selbst wieder zusammengesetzt habe.
Wenn man mich fragt, wie alles angefangen hat, habe ich keine gute Antwort darauf. Ich wurde nie gemobbt, meine Familie hat mich immer unterstützt, ich war gut in der Schule und ich war beliebt. Auch wenn auf den ersten Blick alles gut scheint, hat es in mir drin ganz anders ausgesehen.
Ich setzte mich enorm unter Druck
In meinem Tagebuch gibt es einen Eintrag aus dem Jahr 2015, in dem steht, dass mir alles über den Kopf wächst, dass der Druck zu groß wird. Ich wollte immer die Beste sein. In allem. Denn nur dann bekam ich Lob und Anerkennung. In diesem Tagebucheintrag habe ich auch zum ersten Mal die Selbstverletzung erwähnt und wie groß die Angst vor mir selbst ist.
Im Nachhinein sehe ich diesen Eintrag als den Beginn meiner Depression, wahrscheinlich weil es ein „schriftlicher Beweis“ ist. In den folgenden Monaten habe ich sehr viel in mein Tagebuch geschrieben, allerdings auf „Elbisch“, denn ich hatte Angst davor, dass jemand von meiner Schwäche lesen könnte. (Eigentlich sah es nur aus wie Elbisch, denn ich habe mir für jeden Buchstaben ein Zeichen ausgesucht.)
Ich suchte meinen Wert in anderen
Ich habe mich damals sehr an eine Freundschaft geklammert, mich regelrecht von davon abhängig gemacht. Die Taten und Worte enger meiner engsten Freundin haben mich und meine Gefühlswelt sehr stark beeinflusst und geprägt. In ihr habe ich einen Rettungsanker gesehen, der mich aus dem Strudel meiner Gedanken zieht. Die Hilfe, die mich an das Licht zurückbringt, wenn mich meine eigene Dunkelheit erstickt. Nur konnte sie meine Hoffnungen nicht erfüllen.
Es war, als hätte ich all meine Liebe und meine Kraft nur in diese Freundschaft gesteckt, aber sie gab mir nicht das zurück, was ich so dringend gebraucht hätte. Die Aufmerksamkeit und Liebe, ohne dass ich etwas Besonderes dafür tun oder leisten musste. Und weil sie auch andere Freundinnen hatte, dachte ich, ich wäre ihr nicht genug und sei wertlos.
Im Nachhinein weiß ich natürlich, dass sie das Recht hatte auch mit anderen Menschen ihre Zeit zu verbringen. Und ich weiß, dass es von einer 13 jährigen zu viel verlangt ist, der besten Freundin die Aufmerksamkeit zu schenken, die man eigentlich von den Eltern bekommen sollte.
Leistung war gleich Liebe
Ich möchte meine Eltern nicht darstellen, als wären sie nicht für mich da gewesen, aber mein Vater war kaum Zuhause sondern immer in der Arbeit und meine Mutter wollte von mir zu dieser Zeit nur Leistung. Für mich entstand das Gefühl, dass sie mich nur lieben würde, wenn ich die besten Noten hatte und nie Schwäche zeigte.
Schwäche. Das war für mich Pausen zu brauchen, weinen, oder Gefühle zulassen. In dieser Zeit habe ich sehr viel gelernt, habe mich verausgabt und mich nachts in den Schlaf geweint. Und meine Mutter war stolz.
Bis sie die Narben an meinen Armen entdeckte. Daraufhin schickte sie mich zu einer Therapeutin. Sie wollte, dass ich wieder lachen kann, aber gleichzeitig wollte sie nach wie vor eine perfekte und zielstrebige Tochter.
Meine Noten definierten meinen Wert
Meine Therapie begann Anfang 2016 und relativ schnell wurde meine Hochbegabung festgestellt. Ich war stolz, denn jetzt war ich besonders. Aber der Druck, den ich mir inzwischen selber machte, stieg damit noch mehr. Du bist intelligenter als deine Mitschüler, also wieso hast du nicht mit Abstand in jedem Fach die besten Noten? Die Antwort: Intelligenz und die Höhe des IQs spiegeln sich nicht in Noten wider. Jetzt verstehe ich das. Damals wollte ich es nicht verstehen.
Der Druck stieg also und obwohl meine Eltern alles probiert haben, um mir diesen Druck zu nehmen, wurde er in mir immer und immer stärker. Meinen eigenen Wert als Menschen sah ich in meinen Noten. Aber meine Noten waren ein Spiegel meiner Seele und der ging es gar nicht gut. Ich habe mich von meiner Familie distanziert, wollte nicht mehr reden, nichts mehr unternehmen. Viele Freundschaften sind zerbrochen und ich habe mir die Schuld an einfach allem gegeben.
In der 9. Klasse wurden meine Noten immer schlechter und somit auch mein Selbstwertgefühl. Ich fühlte mich einsam, alleine und im Stich gelassen. Bei Gleichaltrigen fühlte ich mich wie ein Fremdkörper. Ich gehörte einfach nicht dazu. In dieser Zeit habe ich täglich geweint. Mir hat alles wehgetan. Mein Körper, mein Herz, meine Seele. Um diese Gefühle nicht so sehr fühlen zu müssen habe ich mich immer öfter selbst verletzt.
Meine Therapie hat mir in dieser Zeit nicht viel gebracht. Das hatte auch einen Grund. Ich war nicht ehrlich zu meiner Therapeutin und ich war nicht ehrlich zu mir. Ich dachte, wenn ich alles herunterspiele und meine dunkelsten Gedanken nicht ausspreche, dann ist das alles nicht real und dann tut es auch nicht so weh. Ich habe mich so sehr für meine zerbrechliche Seite geschämt, dass ich sogar in der Therapie die Starke gespielt habe.
Und plötzlich fiel ich
In der 10. Klasse bin ich so tief gefallen, dass die Aussicht auf ein schönes Leben unerreichbar schien. Ich hatte panische Angst vor der Schule. Ich wollte das Gebäude nicht sehen, geschweige denn betreten. Ich wollte nicht mit meinen Freundinnen, Mitschülern und Lehrern sprechen. Meine Noten waren sehr schlecht. Ein halbes Jahr zuvor wäre das noch eine Katastrophe gewesen. Jetzt war es mir egal. Mir war alles egal.
Ich sah wie sich die Münder meiner Lehrer bewegten, aber was sie sagten zog an mir vorbei. Ich hörte meine Freundinnen Witze erzählen und lachte extra laut. Ich ging über die Straße ohne auf den Verkehr zu achten. Ich lag nachts wach im Bett und hoffte auf Schlaf. Ich schnitt extra tief um etwas zu fühlen, außer dieser unendliche Leere. Ich recherchierte die wirksamsten Selbstmordmethoden im Internet. Meine Eltern schickten mich zum Psychiater. Dort wurde ich gefragt: Tabletten oder Klinik?
Und ich habe mich für die Klinik entschieden. Denn dieser Teil in mir, der leben wollte und von dem ich geglaubt hatte er wäre längst verschwunden, rief plötzlich ganz laut in mir.
Auf einmal wollte ich kämpfen
Auf einmal wollte ich leben. Auf einmal sah ich Hoffnung. Ich hatte mich doch noch nicht ganz aufgegeben. An diesem Tag in dieser Praxis habe ich mich zum ersten Mal seit Monaten gespürt. Ich habe endlich die Zeit bekommen, die ich immer haben wollte, um mich selbst zu finden und zu lieben. Und obwohl dieser winzige Teil in mir nur für einen kleinen Moment da war, so hat er mir doch mein Leben gerettet.
Als ich mit 15 Jahren in die Klinik kam, hatte ich sehr große Hoffnungen. Ich dachte ich würde endlich Menschen finden, die mich verstehen.
Doch es war alles ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe. Die Freunde die ich mir so sehr gewünscht habe, habe ich dort nicht gefunden. Dafür aber mich selbst. Es gab viele Therapien, die einen mehr, die anderen weniger hilfreich. Aber letztendlich habe ich mich stark genug gefühlt, wieder nach Hause zu gehen und einen Neustart zu wagen.
Ich muss sagen, dass die erste Zeit nach der Klinik sehr schwer war, da man sich erst wieder in seinem Umfeld und Alltag zurechtfinden muss. Ich hatte weiterhin therapeutische Hilfe und habe mir auch ein Antidepressivum verschreiben lassen. Vor einem Monat habe ich mit einem sehr guten Gefühl meine Therapie abgeschlossen. Die Tabletten nehme ich immer noch. Langfristig gesehen möchte ich sie natürlich absetzen, aber für den Moment ist es okay wie es ist.
Ich bin zufrieden
In der Klinik habe ich gelernt, dass ich mir meine Energie aufteilen muss. Wir alle haben das Recht auf Pausen und das Recht, unsere Energie für die Dinge zu nutzen, die uns guttun. Ich weiß jetzt, dass ich für mich an erster Stelle stehen sollte und dass meine Gesundheit das wichtigste ist.
Ein Therapeut hat zu mir gesagt: „Gedanken werden bedeutsam, wenn wir an sie glauben.“, und er hatte Recht. Wenn man lernt, seinen Gedankenstrudel zu stoppen und bewusst etwas Positives denkt, dann bewirkt das viel mehr, als man denkt.
Lösungen liegen da, wo die Probleme sind. Ich habe oft, wenn ich ein Problem hatte, meiner Wut oder Frustration oder Hilflosigkeit zu viel Raum gegeben. Ich habe meine Enttäuschung wegen einer schlechten Note auf alles in meinem Leben übertragen. Jetzt lasse ich ein schlechtes Erlebnis nicht alle meine Gedanken steuern. Es gibt so vieles, was ich in der Klinik gelernt habe:
1. Es ist nicht wichtig, wie gut oder schnell andere etwas können. Wichtig ist nur, dass ich mit meinen Leistungen zufrieden bin und zwar weil ich es für mich tue.
2. Pausen, Wertschätzungen und Belohnungen sind wichtig.
3. Ich muss auf mich und meine Bedürfnisse achten.
4. Ich darf ich selbst sein, ohne mich rechtfertigen zu müssen.
5. Ich darf Gefühle zeigen, weil es keine Schwäche ist, sondern eine Stärke.
6. Ich habe einen Platz in der Welt und bin wertvoll.
Du DARFST fühlen!
Ich weiß, manchmal scheint einem einfach alles zu viel zu sein. Das Loch in das man gefallen ist erscheint einem ein bisschen zu tief, um je wieder herauszukommen. Und man fragt sich, wie man je von anderen geliebt werden kann, wenn man es nicht einmal selbst tut.
Aber ich will, dass jeder hier weiß, dass die Zeit alle Wunden heilt. Man kommt aus jedem Abgrund wieder an das Tageslicht. Man wird geliebt. Man kann lernen sich selbst zu lieben und zu akzeptieren.
Gefühle sind nichts, wofür ihr euch schämen müsst. Du darfst traurig sein und weinen. Du darfst wütend sein. Du darfst glücklich sein und lachen. Du darfst lieben und träumen. Hol dir professionelle Hilfe und hab keine Angst davor verurteilt zu werden. Du bist nie alleine und du bist unendlich wertvoll.
Wenn du gerade selbst mit Angst, Depressionen oder anderen psychischen Herausforderungen kämpfst, haben wir hier einen Brief an dich geschrieben. DU kannst auch andere ermutigen, erzähle Deine Geschichte! Wir freuen uns auch riesig über deine Nachricht oder deinen Kommentar! Wenn dir der Blog gefallen hat, kannst du ihn natürlich gerne liken, teilen und uns auf Facebook und Instagram folgen @theoceaninyourmind.